Havva: Du sagst über dein Leben, Du seist Deinen Gypsy-Roots gefolgt. 

Wann bist Du denn mit Zigeunermusik und -tanz in Berührung gekommen?

Katjusha: Als ich sechs Jahre alt war, stand ich im polnischen Poznan zum ersten Mal neben Zigeunermusikern und hatte ein recht seltsames Gefühl in der Magengegend. Diesem Gefühl konnte ich nicht anders beikommen, als zaghaft mit den Füßen die unbekannt-vertrauten Rhythmen zu klopfen und die Handgelenke heimlich kreisen zu lassen... 
Meine arme Mama war wohl etwas verwundert, als sie mich schüchternes Ding so nah und arglos bei den schwarzen Männern sah, die da am Straßenrand saßen. Später, als ich älter war und die polnische Verwandtschaft besuchte, war mein Taschengeld meist recht bald aufgebraucht: umgesetzt in Platten und Kassetten mit Musik der Polska Roma, in silberne Armreifen und - Kosmetik von Pollena.
Irgendwann waren dann meine Begegnungen mit polnischen Roma nicht mehr „zufällig“. Wir verabredeten uns, ich besuchte die Familien zuhause, wir lachten, stritten, sangen, tanzten zusammen, gingen auseinander und oft trafen wir uns nie wieder... „Tu san amari Tshaj, Kristinka!“ – “Du bist doch unser Mädchen!” Ojeh! Wie war ich da sauer, weil ich doch als fremdenfreundliche Deutsche anerkannt sein wollte!
Meine Ohren waren taub und der Kopf war oft sehr starrsinnig damals gegenüber der Sprache des Herzens...
„Deutsche bin ich, Thüringerin aus Weimar!“

Havva: Hast du Roma oder Sinti-Vorfahren oder wolltest du einfach nur Kontakt und hast dadurch Deinen Beruf bzw. deine Berufung entdeckt?Katjusha: Ich sagte schon, mein Kopf... Und außerdem sprach in unserer Familie keiner groß über Vorfahren. Wir hatten den heutigen Tag zu bewältigen. Und die Zukunft. Vor allem bin ich mütterlicherseits von der russischen und polnischen Kultur geprägt (zu der übrigens immer auch das Vorhandensein von Zigeunermusik, -tänzen, - und -liedern gehörte). Russischer Großadel ist da ebenso zu finden, wie polnischer, Aufständische wie verdiente Partisanen des letzten Krieges. Eine Straße in Katowice trägt den Namen eines Großonkels.
Mein Vater sprach wenig über Vergangenes... Seine Mutter erzählte mir einmal eine wundersame Geschichte, einer Liebe zwischen einem ungarischen Zigeuner, der Offizier wurde und seiner deutschen Magd – der Mutter meines Urgroßvaters... So viel zu meiner „zigeunerischen“ Herkunft.
Der Stimme meines Herzens bin ich schließlich mutig gefolgt, bin oft dabei gestolpert, ausgerutscht, zu forsch vorangeschritten, habe verletzt und bin verletzt worden und bin letztlich immer noch auf dem Weg ...
Der Tanz, die Musik sind mein „Niemandsland“, ich bin Grenzgängerin, Vermittlerin geworden. Ein Leben, das mich Einsicht, Rücksicht und Loyalität zu mir selbst und anderen lehrt.

Havva: Was hat Dich so fasziniert, dass Du das zu Deinem Beruf machen wolltest?

Katjusha: Ich gebe ganz ehrlich zu, als ich begriff, dass Singen und Tanzen für mich zu den wichtigsten, schönsten und verständlichsten Formen der Kommunikation zählen, beschloss ich, den größten Teil meines Lebens damit zu verbringen. Gesang, Tanz, Theater – das sind für mich wichtige Ausdrucksmittel. Ohne sie wäre ich nur ein halber Mensch, wäre ich einer notwendigen Lebensäußerung beraubt. Und da wir Menschen ziemlich viel Zeit mit unserem Broterwerb verbringen – machte ich daraus meinen.
Ich glaube, als ich zum ersten Mal das polnische Musik- und Tanztheater „Roma“ auf der Bühne erlebte, wusste ich, welcher mein Weg ist.

Havva: Gab es schon früh Erlebnisse in Deinem Leben, die Dein Interesse weckten?

Katjusha: Oh, ja. Das erste was ich hörte, war die Gitarre meines Vaters und seine Lieder. Wohlgemerkt, er war ein bekennender Thüringer, mit Leib und Seele. 
Dann, nicht zu vergessen, die polnische, russische und jüdische Musik, die mich ständig umgab und immer wieder zu Bewegungen animierte, die aber ganz woanders herzukommen schienen.
Magisch zogen mich wirbelnde Schultertücher und Röcke an... Mal diente zum Tanzen eine alte Gardine, mal Mamas Seidenschal... Und eines Tages sagte die Großmutter: „No, Mechen, der Zigainerbaron hier hätte och sajne Frajde an dir...“ – auf ein goldgerahmtes, uraltes Foto weisend, dass ein seltsames Paar zeigte: Eine kleine blonde Frau und einen rechten Hünen mit mächtigem Schnauzer im dunklen Gesicht, prächtiger Uniform und Säbel an der Seite. 

Havva: Wie verlief Deine künstlerische Entwicklung?

Katjusha: Ich denke, zu jeder künstlerischen Entwicklung gehört die Einstellung, dass das uns gegebene Talent ein Geschenk ist, das uns verpflichtet, es zur Meisterschaft zu bringen. 
Meine ersten Tanzerfahrungen mit Roma-Tänzen, waren wie gesagt, ganz privat. Ich habe bei den Familienfeiern einfach mitgetanzt, oder es wurde in der Küche der Kassettenrecorder angestellt – und los ging’s!
Alle Kinder und Erwachsenen waren letztlich meine Lehrer, sie ließen mich zusehen, nahmen mich in den Kreis und ich lernte mit den Augen, mit der Seele und selten mit dem Kopf. Diesen oft zufälligen, unakademischen LehrmeisterInnen bin ich sehr, sehr dankbar. 
Aber ich sehnte mich nach der Bühne, nach Meisterschaft. Nach der Verbindung von Gesang, Tanz und immer mehr auch Sprache.
Professionalität erfordert mehr als nur Talent. Also begann ich nach zehnjähriger Kinderchormitgliedschaft eine kurze Ausbildung im Fach Chanson, die ich wütend abbrach, als mir von einigen DDR-Kulturhütern das Präsentieren von Zigeunerliedern untersagt wurde. 
Aber ich sang weiter in privaten Kreisen oder Festivals, in deren Programm das eine oder andere Lied hineingeschmuggelt wurde. Ich nahm hin und wieder Gesangsstunden bei Frau Gerda Schubert, einer wunderbaren Musikpädagogin, der ich heute u. a. meinen „langen Atem“ beim singenden Tanzen verdanke
Im geschützten Raum des Frauenzentrums Weimar trat ich dann zum ersten Mal mit Zigeunertänzen auf, begegnete der damaligen Ballettmeisterin des DNT (Deutsches Nationaltheater Weimar) Frau Helga Dieckmann, der ich meine ersten tanzpädagogischen Anleitungen und Unterricht im Fach Flamenco verdanke.
Nebenbei arbeitete ich übrigens neun Stunden täglich als Wirtschaftskauffrau und Bibliothekarin, zog meine beiden Kinder groß und bitte sie im Stillen immer noch manchmal um Verzeihung, weil sie es mit ihrer ewig probenden, singenden, tanzenden Mama gewiss nicht immer leicht hatten. 
Ich habe wenig akademischen Unterricht genommen. Aber immer war ich wachsam und meine Augen und Ohren waren stets hungrig und lernten in jedem Augenblick, der sich bot: Tanzkurse, Auftritte anderer Tänzerinnen , Regiearbeiten, Theateraufführungen, Festivals, Back-Stage-Begegnungen, Hospitationen im Ballettunterricht, und immer wieder spontane Tanzerlebnisse auf Zigeunerplätzen... – das waren meine Orte zum Lernen.

Meine Einstellung ist: „Ich tanze und singe was ich bin!“ ganz im Gegenteil zu dem heute oft üblichen„Ich tanze und singe – damit ich was bin!“. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass meine künstlerische Karriere nicht ganz so steil verläuft ...,eher seit 20 Jahren mit Höhepunkten durchflochten ist: 
Mit Soloprogrammen bzw. als Mitwirkende in verschiedenen Produktionen tanzte ich inzwischen u.a. auf dem Internationalen Roma Festival „Romane Dywesa“ in Polen, in der Berliner Philharmonie, im Carree Theater Amsterdam, im Eremitage Theater Moskau, auf dem Zarenball im Berliner „Adlon“. Mit dem Schriftsteller Günter Grass tanzte ich und vor dem russischen Generalkonsul... Eine dicke Mappe mit Zeitungskritiken gibt es inzwischen...

Havva: Haben dich Vorbilder beeinflusst?

Katjusha: Ja, es gibt viele wunderbare ZigeunerkünstlerInnen. Allerdings
Zigeunertänzerinnen, die mit Namen in der Öffentlichkeit bekannt wurden, gibt es wenige, mehr in Spanien und den westeuropäischen Ländern. Im Osten war das wohl nie so wichtig. Tanzen gehörte und gehört einfach „dazu“. Das war auch für mich eine Umstellung, als ich meine Zusammenarbeit mit dem Duo Romen/Moskau bzw. Duo Baro begann und als „No-Name-Produkt“ in den Shows als Tanz-Solistin mitwirkte. Wichtig ist immer, dass die Show Erfolg hat, nicht der Einzelne.
Aber es gibt die Stars natürlich auch im Osten wie die berühmte polnische Roma- Sängerin Randia oder Natalja Buziljowa aus Sibirien – beides tanzende Sängerinnen, die ich sehr verehre und deren Lieder ich auch singe.
Auch das Ensemble „Dynastia Romen“ hat grandiose Tanzsolistinnen. Im polnischen Roma-Ensemble TERNO, in dem ich einige Zeit tanzende Gesangssolistin sein durfte, lernte ich sehr viel von den Tänzerinnen. Nicht vergessen will ich Marjana Seslawinskaja, eine Roma-Aktivistin aus Moskau, die Tanzpädagogik studierte und in verschiedenen Zigeunerlagern Russlands unterwegs war, um von den alten Frauen Lieder und Tänze zu lernen. Marjana verdanke ich viele schöne Bewegungen und charmante „Tricks“, mit denen man sein Publikum“ – nun sagen wir – „umgarnen“ kann. 
Auch die Aufführungen des Moskauer Theaters „Romen“ – eine grandiose Symbiose von echter Roma- Folklore und der Meisterschaft des russischen Theaters und Balletts - beeinflussten mich sehr stark. Von dort stammt übrigens auch der Sänger und Tänzer Wassili Zemczusny, mit dem ich heute arbeite und dem ich ebenfalls einige typische Tanzelemente der Russka Roma verdanke.

Havva: Ist der deutsche Begriff „Zigeuner“ eigentlich noch salonfähig oder hört er sich in den Ohren der Zigeuner abwertend an? Ich persönlich mag es nicht, dass alles „ver-englischt“ wird, aber auf CD-Covern liest man Gypsysound, Gypsyqueen, Gypsysoul, Road of the Gypsies etc. Die englische Bezeichung scheint beliebter zu sein. Hast Du dafür eine Erklärung?

Katjusha: Stimmt, das Verenglischen unserer Sprache ist schrecklich! Ein sehr schönes Deutsch, wenn auch mit grammatischen Kuriositäten geschmückt, sprechen übrigens viele deutsche Sinti. 
Was das „Gipsy-„ betrifft, soll man differenzieren. Manchmal hat eine Aussage einen internationalen Charakter und da passt es dann wieder. „Gipsy soul meets classic“ – heißt zum Beispiel eine meiner CD`s. 
Die Bezeichnung „Gipsy“ im deutssprachigen Raum ist nicht beliebter, sondern meiner Meinung nach eher ein Versuch, den politisch korrekten, für viele jedoch abstrakten und mit Unsicherheit verwendeten Begriff „Roma“ oder „Sinti“ zu meiden und erst recht den - nicht nur durch die Nazizeit –geschändeten Begriff „Zigeuner“.
Jener wird von vielen, vor allem öffentlichen Vertretern dieses Volkes, wie die Roma Union, tatsächlich als Beleidigung empfunden. Andere, ebenfalls öffentliche Vertreter, wie die Sinti Allianz, bekennen sich dazu, „Zigeuner“ zu sein. Auch gibt es Websites, von Sinti gestaltet, die diesen Begriff verwenden. Ich weiß aus persönlichen Gesprächen und Kongressen, dass diese Minderheit immer noch auf dem schweren Weg ihrer Emanzipation ist. Dies sollen wir bedenken, wenn wir erleben, auf welch unterschiedliche Art sie auch um ihre Benennung durch Andere ringen.
Ein Name bedeutet den Sinti wie Roma sehr viel. Er ist ihr Schicksal, ihre Bestimmung. Wahrscheinlich geht die Rechnung so nicht auf: Die Gadje (Anm.: sprich: Gadsche = Nicht-Zigeuner) werden nicht ihre Einstellung zu diesem Volk ändern, nur weil man ihnen einen anderen Namen in den Mund legt.
Ich selbst verwende alle drei Begriffe : Roma oder Sinti, je nach dem, zwischen welchen ich mich gerade bewege, aber auch Zigeuner. „Zigeuner“ entstammt einer meiner Muttersprachen und ich finde, es ist ein stolzes, schönes und menschliches Wort. Alle drei Begriffe verwende ich auch in der Öffentlichkeit Ich denke, ich habe 
m e i n e n Weg gefunden, dem Bedürfnis der Roma mit Respekt zu begegnen und dabei gleichzeitig meine „Gadje-Seite“ nicht zu verleugnen. Ich habe bisher damit keine Probleme gehabt. 
Aber jeder soll da für sich entscheiden...

Havva: Du hattest Tanzunterricht bei der Roma-Tanzpädagogin Marianne Seslawinskaja und bei Helga Dieckmann, einer ehem. Ballettmeisterin am DNT-Weimar.
Kann man Zigeunertanz überhaupt lernen oder muss er einem „im Blut liegen“? Oder anders gefragt: Braucht man einen bestimmten Lebenshintergrund, um Zigeunertanz tanzen zu können oder ist eine Art „Seelenverwandtschaft“ wichtiger?

Katjusha: Ich denke, jeder einigermaßen tänzerisch begabte Mensch kann jeden Tanz dieser Welt erlernen und viel Spaß damit haben und anderen bereiten. Es gibt jedoch sehr, sehr wenige Menschen, die einen Tanz, der nicht ihrer Herkunftskultur entsprungen ist, wirklich authentisch darbieten können. Ich erlebte das einmal bei einer Flamencoaufführung. Dort tanzte eine Sächsin tiefer, inniger, farb- und temperamentvoller als die anwesenden Spanierinnen und das Publikum staunte atemlos. 
Wir dürfen nicht vergessen, dass sich im Tanz Bewegungsabläufe und eine Bewegungsrhythmik manifestieren, die oft über viele Generationen hinweg im Rahmen eines bestimmten kulturellen Alltags gewachsen ist. Ebenso die innewohnende Seele....
Um als „Anderer“ authentisch sein zu können – wenn man es denn unbedingt will – gehört meiner Meinung nach nicht nur das sich wenigstens zeitweise Bewegen in der jeweiligen Kultur, sondern auch ein außergewöhnliches Maß an Empathie und Intuition. Das gilt besonders für den Zigeunertanz und ist so ziemlich das Schwerste daran. Du hast recht, eine gewisse Seelenverwandtschaft ist eine gute Voraussetzung, die Schönheit dieses Tanzes zu präsentieren. Kraft, Freiheit, Sinnlichkeit, Mut, Trotz, Übermut, Tragik und Stolz sind seine Elemente. Doch wenn wir diese Elemente in uns und unserer eigenen Geschichte gefunden haben, sie mit einigen typischen Bewegungen umsetzen, wird daraus unser ganz persönlicher Zigeunertanz. Und das ist dann sehr authentisch.

 

Havva: Wie bist Du zum Unterrichten gekommen? Ist das ein Schwerpunkt Deiner Tätigkeit oder eher ein Nebenschauplatz? Seit wann unterrichtest Du? Und worauf legst Du in Deinem Unterricht am meisten Wert, was ist Dir wichtig, zu vermitteln?

 

 

 

 

Im Jahr 2004 interviewte die Tänzerin und Tanzpädagogin Havva Eva Seyberth Katjusha Kozubek für das bundesweite Journal TanzOriental. 

Ein interessanter Beitrag, der noch immer viele Bezüge zur Gegenwart zeigt, ist dabei entstanden. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Katjusha: Ich bin manchmal nach meinen Konzerten gefragt worden, ob ich denn nicht auch Tanzunterricht gebe. Ich hatte keine Lust. Wirklich! Singen war mein Element und getanzt habe ich bei unseren Sinti genug! Dann bekam ich immer öfter Telefonnummern zugesteckt. Also gab ich meinen ersten Kurs. Am Anfang taten mir die hölzernen Bewegungen meiner hoffnungsvollen Elevinnen bis ins Mark weh’! Oje, hoffentlich haben sie das nie wahrgenommen, die armen! Später entdeckte ich jedoch, wie viel Spaß es mir machte, zu sehen, wie sich mit jeder Stunde ihre Bewegungen, ihr Gang, ihre Blicke änderten, wie sie sich in die Melodien fallen lassen konnten und zu welch’ spannenden Improvisationen sie das Erlernte zusammenfügten. Nun vermittle ich seit 2 Jahren mit großem Vergnügen Elemente des osteuropäischen Roma-Tanzes und hoffe, dass es mir auch gelingt, die Seele dieses Tanzes präsent zu machen. Und die macht aus, dass eine Tänzerin vor allem sich selbst wahrhaftig tanzt. Ich bemühe mich, meine Schülerinnen zu erkennen und jeder ein paar für sie passende Bewegungselemente aus dem großen Repertoire mit auf den Weg zu geben, sich selbst und ihrem Publikum zur Freude.

Havva: Gibt es bestimmte Bewegungselemente, die bei allen Zigeunerstämmen oder - sippen der verschiedenen Länder vorkommen, die sozusagen „typisch“ oder „länderübergreifend“ sind?

Katjusha: Ja, freilich gibt es Unterschiede. Die Zigeuner dieser Welt haben es schon immer verstanden, auf wunderbare Weise die kulturellen Eigenheiten der Region, in der sie zuhause waren, in ihr Leben zu integrieren, ohne dabei ihre Eigenständigkeit, ihre Wurzeln zu verlieren. Das zeigt sich natürlich auch im Tanz. Die russischen Roma haben z.B. manches vom russischen Volkstanz übernommen, wie das Spiel mit großen, blumigen Tüchern oder dem Stepptanz, aus dem der berühmte, feurige Zigeunerstepp wurde, den vor allem die Männer tanzen. Die russischen Roma-Frauen, tanzen ihn in hochhackigen Schuhen, eine wahre Akrobatennummer! Es geht aber auch barfuss... Der Charakter dieser Tänze ist sehr tief und leidenschaftlich, selbst in der Fröhlichkeit. 
Die Tänze der polnischen Roma haben die Leichtigkeit und Fröhlichkeit der polnischen Volkstänze, die Männer tanzen gerne den beliebten Hopak.
In der Tschechei und Ungarn sind die Tänze sehr an die Csardasz-Rhythmen der dortigen Musik gebunden, sind weniger elegant, werden dafür aber von mehr Sprüngen und schnellen Schulter-Shimmies und vor allem mehrstimmiger Gesangsbegleitung bestimmt.
Die kroatischen und serbischen Roma sind bekannt für ihre Kreistänze, die das starke Gemeinschaftsgefühl sehr schön wiederspiegeln.
Und in Rumänien sind im Roma-Tanz besonders Elemente aus dem Orientalischen Bauchtanz finden.
Der wiederum ist unter vielen Sinti tabu, die vor allem die Eleganz des spanischen Flamenco bevorzugen, aber oft auch die unterschiedlichsten Elemente miteinander mischen.
Dass die Urheimat der Zigeuner Indien ist, zeigt sich in den über Jahrhunderte konservierten Bewegungsabläufen, die bei den meisten von ihnen -, nur unterschiedlich akzentuiert-, zu finden sind: Schultershimmy, Arm- und Handbewegungen, Spiel mit den Röcken, ein „sich unvermittelt in den Rhythmus fallen lassen“ und ein „Schweben“ über den Rhythmus . Das letztere gelingt nur, wenn man den Kopf beim Tanzen ausschaltet...
Zum „richtigen“ Zigeunertanz gehört wohl auch, dass er meist ein bisschen „ungeordnet“ scheint, oft durch das augenblickliche Gefühl einer Tänzerin oder eines Tänzers eine neue Wendung bekommt und alle anderen dabei gelassen mitmachen, als wäre alles so geplant...

Havva: Bei „Zigeunertanz“ assoziieren viele das Klischee der heißblütigen temperamentvollen Zigeunerin á la „Carmen“, die laut Film und Oper sexuell unabhängig und promiskuitiv lebt. Eine ähnliche Handlung ist auch im russischen Film „Tabor“ zu sehen (der deutsche Filmtitel „Das Zigeunerlager zieht in den Himmel“).
In Wirklichkeit unterliegen oder unterlagen doch Sexualität und Ehe bei den Zigeunern einer strengen Reglementierung: Der Körper der Frau gilt oder galt ab Taille abwärts tabu und unrein, daher auch die manchmal mehreren langen Röcke, während es angeblich normal war, wenn beim Stillen der Kinder die entblößte Brust zu sehen war.
Wie kam dieser Gegensatz zustande? Geben derartige Filme nur das Klischee wieder ?
Katjusha
: Erst einmal gibt es auch da einige Unterschiede. Eine Sintizza, ähnlich wie eine russische Roma-Frau würde sich z.B. nie stillend mit entblößter Brust in der Öffentlichkeit oder in der Familie zeigen. Dahinter steckt auch das Bewusstsein, dass die weibliche Brust mehr ist als nur Nahrungsquelle für das Kindchen. Ihre erotische Bedeutung verliert sie doch nicht, bloß weil sie für einige Augenblicke die Funktion wechselt. Und warum sollten bspw. männliche Familienmitglieder unnötig durch diesen Anblick gereizt werden? Da gebietet schon der Respekt vor den männlichen Gefühlen Einhalt.

Mag sein, das es irgendwo so gehandhabt wird, ich persönlich habe noch nie eine öffentlich stillende Zigeunerin erlebt, weder in Polen, der Tschechei, in Russland, in Finnland, bei deutschen Sinti noch unter serbischen und rumänischen Roma, die ich persönlich kannte.
Interessant ist tatsächlich, wie häufig das Temperament und die „Heißblütigkeit“ – ich kenne übrigens auch viele sanfte Mauerblümchen- missdeutet wird und als sexuelle Gier interpretiert wird. Vielleicht liegt es daran, das Roma wie Sinti im Kreise ihrer Gemeinschaften eine natürliche Wahrnehmung ihrer Gefühle entwickeln durften und einen entsprechenden Umgang damit pflegen, der ihnen aber auch natürliche Grenzen setzt, wie ich vorhin schon beschrieb. Vielleicht ist es die starke körperliche und seelische Präsenz, die sich natürlich auch in der erotischen Ausstrahlung zeigt – wie sie freien Menschen eigen ist, die sich immer der Akzeptanz und Fürsorge ihrer Gemeinschaft sicher sein können. Erotik hat so viele Gesichter ... und es macht ungeheuer Spaß, mit ihr zu spielen ... Von Menschen, die dieses Spiel nicht mehr verstehen, weil ihnen ihre Kultur das gehörig ausgetrieben hat und sie taub für die Stimme ihres Körpers machte – oder zumindest schwerhörig- muss das natürlich Befremden, Angst oder wilde Phantasien á la Carmen auslösen. 

 

Havva: Zigeunermusik ist schon lange „in“ und immer mehr der vielen phantastischen Musiker werden auch über die Medien, diverse Festivals etc. bekannt. Als Künstler scheinen die Zigeuner heute von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert. Hat sich das Verhältnis von Zigeunern und Gadje (Nicht-Zigeunern) tatsächlich inzwischen grundlegend verbessert? Falls nein, woran liegt es Deiner Meinung nach?

Katjusha: Das gerade in den östlichen Ländern im Moment wieder ein sehr mörderisches Verdrängen der dort ansässigen Roma begonnen hat, haben auch hierzulande viele mitbekommen. Nicht nur durch die vielen Flüchtlinge, die in Deutschland auf ein Stückchen Lebenschance hofften und nun zum Teil resigniert oder verzweifelt in der Abschiebehaft auf ihren Rücktransport warten.

Immer, wenn es den Menschen schlechter geht, beginnen sie seltsamerweise zuerst nicht gegen die Verursacher aufzubegehren, sondern lassen die Wut, die aus ihrer vermeintliche Ohnmacht resultiert, erst einmal an den „Anderen“ aus. Das ist wahrscheinlich überall auf der Welt so. Und überall gehörten und gehören Zigeuner zu den ersten Opfern
Die Formen der Ablehnung und Respektlosigkeit gegenüber dieser Minderheit sind hier in Deutschland subtiler geworden. Rassismus ist auch, wenn man die Andersartigkeit des Anderen nicht wahrnehmen will, seine Grenzen von Moral, Sitte und Ehre mit allgemeinen Vorschriften und Erklärungen überschreitet. Z.B. wie kürzlich durch das wissenschaftlich begründete Zeigen von Grabtafeln verstorbener Sinti im Internet; oder das Überstreifen von Maßnahmen, die die gewachsenen, eigenständige Sozialstruktur dieses Volkes zerstören. Oder indem man versucht, ihnen ihre eigene Geschichte (vor-) zu schreiben...

Erst kürzlich schrie ein angetrunkener Nachbar „Zigeunerpack“ nach mir; auf meinem Briefkasten fand ich eines Morgens „Fuck you“ eingeritzt. Vor Jahren, als ich noch in Weimar wohnte, klebte nach einem mit Begeisterung aufgenommenen Konzert ein Zettel an meiner Tür: „Dich haben sie in Buchenwald vergessen.“ 
Ja, das war dann doch nicht so subtil...

Auch von Seiten der Zigeuner ist das Aufeinanderzugehen nicht einfach... Belastet mit den schrecklichen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit und denen der Verfolgungen der letzten Jahrhunderte, haben sich unter den Sinti und Roma in unterschiedlichem Maße Denkweisen herausgebildet, die ihrem begründeten Misstrauen entspringen. Die meisten zogen sich von den Gadje zurück, und flüchteten sich in das Leben in einer zweigeteilten Welt: die der Roma oder Sinti, der sie sich verpflichtet fühlen und die der Gadje, was heißt, der Anderen. In dieser ist man nur kurzzeitig Gast oder auf der Flucht. Andere versuchten ihre Herkunft zu vergessen und lösten sich von ihren Wurzeln, die ihnen in einer feindlich gesinnten Welt hinderlich schienen. 
Wieder andere leben ganz unerkannt unter uns. Das alles sind natürlich auch nicht die besten Voraussetzungen für einen Dialog ohne Missverständnisse und Verletzungen.

Ich denke, wir leben in einer sehr heftigen Zeit, in der gute wie schlechte Strömungen gleichermaßen erstarken. So macht es mir immer wieder große Freude, wenn ich nach meinen Lesungen von Sinti-Literatur, aber auch nach Konzerten und Workshops sehr interessiert und mit Respekt vom Publikum befragt werde und sich die Menschen am Ende sehr klug und kritisch mit Themen der heutigen Gesellschaft auseinandersetzen. Ich weiß, dass es viele Nichtzigeuner gibt, die Sinti-/ Roma- Projekte, wie das Sinti Radio Latscho Dibes in Hildesheim oder den Philharmonischen Verein der Roma- und Sinti in Frankfurt unterstützen und sich in vielen anderen politischen, sozialen und kulturellen Projekten für dieses Volk engagieren. Vielfach werden Kulturfestivals gefördert. Ich erlebe auch, dass es immer mehr Menschen gibt - auf beiden Seiten -, die eine unverkrampfte Begegnung suchen, sich mit Aufrichtigkeit und Würde gegenüber treten und beistehen. 

Havva: Welche der vielen Riten des alltäglichen Lebens, so z.B. die Tabus und Reinheitsriten, sind denn heute noch aktuell und bindend und werden gelebt?

Katjusha: Ich möchte dazu nicht viel sagen, weil ich weiß, dass die meisten Sinti dies nicht wünschen.. Das sind Sintengro Kowa – Zigeunerangelegenheiten. Also überlasse ich das Erzählen jemandem, aus den Reihen derer, die in diese Kultur hineingeboren wurden, wenn er oder sie die Zeit dafür für angemessen hält. 

Havva: Viele Legenden und Mythen, die die Zigeuner umgeben, betreffen nur den Kontakt zu Nicht-Zigeunern und dienten dazu, Geld zu verdienen, was ja nicht verkehrt ist, und sich über die Gadsche lustig zu machen. Zum Beispiel das Wahrsagen. Stimmt es denn, dass die Zigeunerfrauen immer nur den Gadsche die Zukunft vorausgesagt und selber angeblich gar nicht daran geglaubt haben?

Katjusha: Ich denke, das kann, wie immer, nicht verallgemeinert werden. Ich kenne z.B. einige polnische Roma-Frauen, die sich die Karten gelegt haben. Auch in den ländlichen Gegenden von Rumänien gibt es Roma, die sehr gläubig sind, was Zeichen in der Natur, die Zukunft weisend, betrifft.
Ich denke, wenn sie sich untereinander nicht wahrsagen, dann hat das eher etwas mit ihrer tiefen Schicksalsgläubigkeit zu tun. Manchmal macht es Angst, was die Karten sagen...
Aber manchmal kommt es darauf an, mit welchen Ohren wir ihnen zuhören: 
Zum letzten Silvester schlug mir ein guter Freund in weinseliger Stimmung vor, diese Nacht zu nutzen, um meine Lebenskarten für das kommende Jahr zu ziehen. Die ganze Familie schrie auf: „Tu’s nicht!“ Aber ich tat’s doch, nachdem die Karten vor mir auf dem Tisch ausgebreitet wurden. Dann schrien sie wieder vor Schreck und weil sie gerade Lust auf ein Drama hatten.
Denn: es sah’ nicht gut aus. Aber alle zusammen haben wir dann eine Stunde lang etwas positives hineininterpretiert. Das war recht lustig und bis jetzt ist alles eingetroffen.
Freilich gibt es auch unter den zigeunerischen Wahrsagern und Wahrsagerinnen Scharlatane. Es ist aber auch verlockend, wenn du erlebst, wie jemand verzaubert von den eigenen Phantasien, die er über dich hat und angelockt von deiner „exotischen“ Art, gebannt an deinen Lippen hängt und dir sämtliche Prophezeiungen für ein ordentliches oder zumindest dir gerade nötiges Handgeld abkauft

Ansonsten soll niemand die enorme Menschenkenntnis, Intuition und Empathie dieser Menschen unterschätzen. Die Roma und Sinti haben eine Kultur der Seele entwickelt und sie besaßen das Geschick, diese, uns allen geschenkten Fähigkeiten über die Zeiten zu bewahren und zu kultivieren. So wie es nur freie und doch aneinader gebundenen Seelen fertig bringen, die fein aufeinander abgestimmt sind und im Einklang mit sich und der Natur leben. Ich denke, dass man mit solchen „Antennen“ sehr rasch das Wesen eines anderen Menschen erfassen kann und auch die Lebenssituation erspürt, in der er sich befindet. Ich kenne einige Zigeuner und Zigeunerinnen, die als KartenlegerInnen, LebensberaterInnen usw. arbeiten und ihre Arbeit sehr ernst nehmen...
Ich denke, jeder sollte das Wahrsagen, so er es nutzt, wie ein Tarot verwenden: als Anregung, achtsam auf sein Leben zu schauen.

Havva: Inzwischen gibt es ja auch Autoren und TänzerInnen, die Zigeunertänze erforschen und darüber publizieren. Zum Beispiel den aus Ungarn stammenden Zigeunertänzer Gustav Balazs mit seiner holländischen Frau, der u. a. ein Stipendium erhalten hat, die türkischen Zigeunertänze zu erforschen und ein Buch geschrieben hat u.a. über russsischen Zigeunertanz. Wie stehst Du dazu ? Sammelst oder forschst Du selber auch?

Katjusha: Um Gottes Willen! Nicht das noch! Ich sammle schon Roma- und Sinti-Gedichte für unsere Radiosendung „Latsho Dibes“, in der ich sie vorlese. Aber es ist sicher für einige Menschen sehr schön und wichtig, Zigeunertänze zu erforschen. Für die Zigeuner selbst wahrscheinlich am wenigstens. Ich wünsche denjenigen, die es tun, viel Spaß, Erfolg und Verständnis bei den Beforschten. Ich persönlich halte es mit den Worten von Vittorio Mayer Pasquale: „Viele Leute glauben nicht an Dinge, die sie nicht erklären können, aber wir versuchen die Dinge, an die wir glauben, nicht zu erklären...“
Für mich ist der Zigeunertanz im Kreise der Sinti oder Roma etwas Heiliges. Er ist eine besondere Form von Intimität – eine der wenigen, die den Menschen geblieben ist. Die will ich nicht durch Feldstudien stören.

Havva: Was sind Deine Ziele und Pläne für die Zukunft?

Katjusha: Oh - es kommt meist ganz anders, als ich plane....
Ich möchte gerne meine dritte CD „Pashi Jag“ in diesem Jahr auf den Markt bringen. Die Musik mit dem Mario Triska Ensemble ist schon abgemischt, nun schreibe ich gerade das Begleitheft mit Texten in Romanes und Englisch. Dann beginnen die Arbeiten für eine Zigeunershow, die ich mit dem Moskauer Roma-Künstler Wassili Zemczusny vorbereite. Übrigens suchen wir dafür noch flexible Tänzerinnen. Mit MFA Kera & Black Heritage wird es ein Konzertprojekt geben „Gypsysoul meets Jazz“. Und natürlich werde ich zwischendurch Tanzunterricht geben....

 

(2004)